
Alina Kunitsyna
Österreich
Alina Kunitsyna (*1981 Minsk, Belarus) lebt und arbeitet in Wien und in Damtschach, Kärnten. Die Faszination ihrer Bilder begründet sich auch in der prägnanten formalen Präzision, mit der sie ornamentale Details, Faltenwürfe und die Materialität von Stoffen auf die Leinwand oder mit Tusche auf Papier bringt. Die Motive sind aus dem Alltag entnommen: Decken, Tücher, gebrauchte Ballettschuhe, Sneakers, achtlos hingeworfene Kleider – zusammengeballt zu textilen Haufen – allesamt Hüllen, die von einem Inhalt erzählen und zugleich auch als Metapher dienen und vielfältige Assoziationen evozieren. Für den Hangar-7 entstand eine Serie mit „Tucharbeiten“, mit denen sie Körperliches darstellt. Die Kraft dieser Werke liegt auch in ihrer formalen Komposition im Zusammenspiel von freier Fläche und skulpturaler körperlicher Präsenz der Bildsujets. Auf intensivster Beobachtung beruhend, scheinen die Bilder eine Realität wiederzugeben, die jedoch alles andere ist als eine mimetische Abbildung. Das ist auch das Besondere an Alina Kunitsynas Werk. Es ist ein unmissverständliches Bekenntnis zur figurativen Malerei und gleichzeitig gelingt es ihr, genau damit vor allem die abstrakte Ebene des Bildes anzusprechen. Das erscheint im ersten Moment als Widerspruch, wird jedoch evident, je länger man ihre Tuschezeichnungen und Leinwandbilder betrachtet. Das Motiv ist der Impuls, um auf eine gedankliche, durchaus philosophische Ebene zu kommen, in der, so Kunitsyna, wieder ein Raum, eine Freiheit entsteht, um komplexe, abstrakte Themen zu verhandeln – und sie macht dies mit einer großen Souveränität und Leichtigkeit, in der auch stets ein wenig Humor steckt. Zugleich verweisen ihre Bilder auch auf die Kunstgeschichte, auf Lucas Cranachs Darstellungen von Adam und Eva, auf die Skulpturen Giacomettis oder auf das Motiv der „Voranschreitenden“ in einem römischen Relief, das sich heute in den Vatikanischen Museen befindet. Daraus übernimmt sie die Haltung des Körpers, um sie dann jedoch vollkommen in ihre Formensprache zu übersetzen. Die Fragen nach der Identität, nach dem, was den Menschen ausmacht, verhandelt sie auch in Auseinandersetzung mit philosophisch-naturwissenschaftlichen Diskursen, bezieht sich etwa auf die Monaden-Theorie des Mathematikers Gottfried Wilhelm Leibniz oder interpretiert Robert Musils bekannten Satz: „Wir irren vorwärts“. So konfrontiert sie uns mit der Ambivalenz des Lebens, in der wir stets neue Variablen erkennen, Möglichkeiten, wie man Mensch sein und seinen inneren Menschen finden kann – oder auch nicht und lässt uns erkennen, dass die faktische Welt stets zugleich auch anders gedacht werden kann. Kunitsyna kommentiert nicht die Tagespolitik, doch ist sie eine sensible Beobachterin ihrer Zeit. Eindrücklich ist etwa „Rechts irren“. Die Figur zitiert das Relief der „Gradiva“, der Voranschreitenden, ein dynamisches römisches Steinbild einer jungen Frau mit leicht gesenktem Kopf, bzw. ihre literarische Interpretation in der 1903 publizierten Novelle „Gradiva“ von Wilhelm Jensen, die Sigmund Freud zu seiner Studie „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘“ (1907) inspirierte. Die Dame auf dem Relief, die durch Jensen und Freud in einen neuen Kontext gesetzt wurde, hat noch viele Künstler:innen begeistert, wie Bildtitel vor allem in der surrealistischen Malerei dokumentieren. Bei Alina Kunitsyna wird der gesenkte Kopf zum Symbol für wegschauen, nicht sehen wollen, nichts sagen wollen oder können, keinen Blickkontakt suchen, steht aber auch für sich verneigen und Demut. Diese Ambivalenz wohnt ja bereits der Wahl des Motivs inne. Die Hermès-Tücher – Produkte voll Luxus und Schönheit werden in eine neues Bedeutungskonzept gesetzt. Kunitsynas Werke intiieren eine emotionale Gedankenkette und fordern uns auf, hinter das nach außen hin Sichtbare zu schauen.
